Alkuin von York (um 730–804) und die geistige Grundlegung Europas

Alkuin von York (um 730–804) und die geistige Grundlegung Europas

Organisatoren
Stiftsbibliothek St. Gallen; Universität Erlangen
Ort
St. Gallen, Schweiz
Land
Switzerland
Vom - Bis
30.09.2004 - 02.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Michele C. Ferrari, Erlangen

Zusammenfassung:

Vom 30.9. bis 2.10.2004 fand in der Stiftsbibliothek St. Gallen ein internationaler Kongress über Alkuin von York († 804) statt. 16 ausgewiesene Frühmittelalterspezialisten verschiedener Fachrichtungen aus Europa und Übersee, hundert eingeschriebene Teilnehmer sowie ein weiteres interessiertes Publikum befassten sich mit diesem karolingischen Gelehrten und seinem Beitrag zur geistigen Grundlegung Europas. Die Tagung wurde von der Stiftsbibliothek St. Gallen und von der Professur für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit der Universität Erlangen organisiert, sie war thematisch in die Jahresausstellung „Karl der Grosse und seine Gelehrten“ im Barocksaal der Stiftsbibliothek eingebettet. Die Referate haben unter verschiedenen Aspekten bestätigt, wie zentral Werk und Wirken Alkuins für seine Zeit gewesen sind. Doch gelangten sie auch zu einer differenzierten und teilweise neuen Bewertung von Alkuins Leistung. Die Tagung hat ausserdem einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Vernetzung geleistet: Vernetzung des karolingischen Zeitalters auf makroskopischer und auf mikroskopischer Ebene. Die Veröffentlichung der Tagungsakten in der Reihe „Monasterium Sancti Galli“ ist für 2006 vorgesehen.

Tagungsbericht

Im Zentrum der Tagung stand drei Tage lang «Alkuin und die geistige Grundlegung Europas». Anlaß für die Tagung war die 1200. Wiederkehr des Todestages von Alkuin von York, dem Berater und Mitstreiter Karls des Großen. Durch die Mitwirkung von international ausgewiesenen Spezialisten mehrerer Fächer, etwa der Anglistik, der Geschichte, der Kunstgeschichte, der Mittellateinischen Philologie, der Paläographie und der Theologie, wurde ein vielseitiges Bild einer der führenden Persönlichkeiten des Frühmittelalters dem zahlreich anwesenden Publikum dargeboten.

Die kenntnisreichen Referate haben bestätigt, wie zentral Werk und Wirken Alkuins für seine Zeit gewesen sind. So hat er durch seine theologischen Werke mit Sicherheit zur geistigen Grundlegung Europas beigetragen, wie E. Ann Matter («Alcuin’s Theology») in ihrem Beitrag zeigte. Der Erfolg seiner Texte ist ein Beweis dafür, daß die Zeitgenossen deren Bedeutung anerkannten. Aber auch in anderen Bereichen hat Alkuin Entscheidendes geleistet, indem er die Tradition verarbeitete und sie angereichert wiedergab. Das gilt für die Biographie, wie Walter Berschin ausführte («Alkuin und die lateinische Biographie»), aber auch für die Dichtung. Die Forschung ist Alkuins poetischer Produktion mit Skepsis, ja mit Ablehnung begegnet. Francesco Stella («Alkuins Dichtung») und Dieter Bitterli («Alkuin und die angelsächsische Rätseldichtung») warfen einen neuen Blick auf diesen wichtigen Teil von Alkuins Œuvre und beschrieben die Funktion von Alkuins Kleindichtung als Bindeglied zwischen Spätantike und Mittelalter überzeugend.

Doch Wissenschaft lebt nicht nur von der Überprüfung und gegebenenfalls der Bestätigung herkömmlicher Forschungsmeinungen, sondern auch von deren Infragestellung. Auf der Tagung wurde in diesem Sinne Wichtiges geleistet, um so zu einer differenzierten und teilweise neuen Bewertung von Alkuins Leistung zu gelangen.

Rudolf Schieffer wies im öffentlichen Eröffnungsvortrag («Alkuin und Karl der Große») auf die Schwierigkeiten hin, die Einseitigkeit der Quellen zu überwinden, was die Rolle Alkuins als Berater Karls des Großen anbelangt. Er forderte dazu auf, das starke, auch populärwissenschaftlich fest verankerte Bild Alkuins als denkender Kopf neben dem fränkischen Herrscher zu hinterfragen. Wilfried Hartmann («Alkuin und die Gesetzgebung Karls des Großen») folgte Schieffer in seinem Beitrag und betrachtete Alkuins Rolle beim Verfassen von kaiserlichen Kapitularien kritisch.

Das vorherrschende Bild Alkuins muß auch deswegen korrigiert werden, weil neue Quellen erschlossen wurden. Die Auseinandersetzung mit diesen neuen Texten zwingt geradezu zur Veränderung rezipierter Forschungsmeinungen. Gerhard Schmitz («Bonifatius und Alkuin: Ein Beitrag zur Glaubensverkündigung in der Karolingerzeit») führte dies anhand einer bisher Bonifatius zugeschriebenen Predigtsammlung vor und schrieb sie mit guten Gründen dem Alkuin-Kreis zu. Franz Fuchs («Theodulf von Orléans, Alkuins Gegenspieler?») konnte dank einem sensationellen Fund (das sind unbekannte und nach wie vor unedierte karolingische Verse aus einer neuzeitlichen Handschrift) ein weiteres eindrückliches Beispiel dafür liefern.

Ein weiterer Punkt muß erwähnt werden. Die Tagung hat einen wichtigen Beitrag zur (in unserer Zeit aktuellen) Geschichte der Vernetzung geleistet. Das karolingische Zeitalter ist ein Zeitalter des Netzes, und zwar auf makroskopischer (1.) und auf mikroskopischer (2.) Ebene, wie die Referate vor Augen führten.

1. Makroskopisch betrachtet, waren die karolingischen Intellektuellen ständig unterwegs. Sie nahmen dabei Handschriften mit, tauschten Texte und Bilder unter sich, und trugen somit dazu bei, eine europäische Kultur zu begründen.

Klaus Herbers («Der Beitrag der Päpste zur geistigen Grundlegung Europas im Zeitalter Alkuins»)wies darauf hin und griff auf den Begriff des Kulturtransfers zurück. In ähnlicher Richtung gingen weitere Beiträge. David Ganz («Alkuin-Handschriften und Skriptorien im Reich Karls des Großen») bot eine beeindruckende Übersicht über die gesamteuropäische Verbreitung von Alkuins Werken. Lawrence Nees («Alcuin and manuscript illumination») deutete seinerseits das Touronische Skriptorium als Sammelbegriff für eine vernetzte Kulturlandschaft.

Hochvernetzt war im Frühmittelalter auch der Ort, an dem die Tagung stattfand. Zwei Vorträge erklärten, warum das Kloster St. Gallen als eine vollberechtigte Alkuin-Gedenkstätte gelten kann. Ernst Tremp («Alkuin und das Kloster St. Gallen») wies auf die wichtigen Außenbeziehungen der St. Galler Benediktiner hin, denen wir die z. T. bedeutenden Handschriften mit Alkuins Werken verdanken; Anton von Euw («Enzyklopädie und Astronomie an der Hofschule Karls des Großen») zeigte, wie aktiv die Vernetzung in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts war, die in der Gestalt von Abt Grimalt ihre Verkörperung fand. Schließlich bewies Karl Schmucki («Frühneuzeitliche Editionen von Alkuin-Texten und die St. Galler Überlieferung»), wie eine solche Vernetzung zur Grundlage für das Nachleben eines mittelalterlichen Autors wie Alkuin werden kann.

2. Die zweite, die mikroskopische Ebene, die angesprochen wurde, ist die textuelle Ebene. Auch die Texte wurden vernetzt, indem man sie zusammenschrieb, und wurden somit zu komplexen Textgebilden mit eigener Aussage. In mehreren Vorträgen auf der St. Galler Tagung war davon die Rede.

Der noch für 2006 geplante Druck der Kongreßakten wird die erzielten interdisziplinären Forschungsresultate zugänglich machen und, wie die Organisatoren und Herausgeber hoffen, die Grundlage für weitere Recherchen auf einem wichtigen Gebiet der europäischen Kulturgeschichte bilden.

Publikation im Zusammenhang mit der Tagung
Karl der Grosse und seine Gelehrten. Zum 1200. Todestag Alkuins († 804). Katalog zur Ausstellung in der Stiftsbibliothek St. Gallen (22. Dezember 2003 – 14. November 2004), St. Gallen 2004, 144 S., 35 farb. Abb., CHF 15.–, ISBN 3-906616-65-7

Tagungsakten
Es ist vorgesehen, die Akten der Tagung in der Reihe „Monasterium Sancti Galli“, die von der Stiftsbibliothek und vom Stiftsarchiv St. Gallen herausgegeben wird, zu veröffentlichen. Redaktionsschluss ist der 1. August 2005, das Erscheinen ist für 2006 geplant.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts